Am nächsten Tag gab es ab 6 Uhr Frühstück. Das habe ich genossen. Es war ein Mix aus japanischem und westlichem Frühstück. Danach machte ich mich bereit. Viele der Wander-Kollegen waren schon vor mir aufgebrochen.
Ich verliess die Unterkunft so um 7.30 Uhr. Denn der zweite Tag schien anstrengender und länger zu werden.
Der Mann, welcher den Speck für das Frühstück briet, sprach mich beim Wanderschuhe anziehen auf Japanisch an. Er wollte wissen, wohin ich heute wandere, und wollte auch wissen, wohin ich danach gehe. Als ich antwortete, dass ich danach wieder nach Miwasaki, neben Shingu, gehe, stutzte er und wollte wissen warum. Als ich ihm erklärte, dass ich in Shingu Aikido mache und das 13. Mal in Japan bin, änderte er seine Meinung von «blöder Tourist» zu spannende Frau. Auch der Hotelinhaber ‒ also ich denke, dass er das war ‒ änderte seine Haltung.
Der Mann, der mit mir sprach, erzählte von Hikitsuchi Michio Sensei. Er ist noch heute sehr bekannt für sein Aikido und das noch fast 20 Jahre nach seinem Tod. Hikitsuchi Sensei wurde von O’Sensei, Ueshiba Morihei, beauftragt, das Dojo in Shingu zu bauen. Diese Begegnung zeigte mir, dass es wichtig ist, das Wissen über unsere Aikido-Lehrer in uns aufzusaugen. Damit wir auch das weiterverbreiten und den Geist bewahren können.
Nach diesem Gespräch ging es los. Ohne dabei zu sprinten und mich zu verausgaben. Denn ein erster grosser Aufstieg auf ca. 820 m Höhe stand an. Der Höhenunterschied war nicht gross, doch die unförmigen Stein- und Wurzeltreppen waren herausfordernd. Da war ich dankbar, dass ich meine Wanderschuhe trug. Nach knapp zwei Stunden erreichte ich dann den zweiten von drei Pässen. Er lag auf 800 m. Auf dem Ishikura-Pass holte mich ein Paar aus Australien wieder ein. Sie sagten zu mir, dass das Innehalten bei den Statuen ein schönes Ritual sei, und fragten mich, was die Stein-Gedichte sagen und bedeuten. Ich antwortete, dass ich sie nicht komplett lesen könne und ich vermute, dass sie die Pilgerer zum Innehalten und Reflektieren animieren sollen. Sie fragten, was das Quadrat 口 (guchi) bedeute. Ich antwortete, dass es Mund oder Öffnung bedeutet. Und so erklärte ich auch, dass das Zeichen 小 (chisai / ko) klein bedeutet. Dass der Ort, wo ich übernachtete, kleine Öffnung oder so ähnlich heisst. Ausserdem erklärte ich, dass 出口 (deguchi) Ausgang bedeutet. Sie waren beeindruckt.
Das zeigte mir, dass ich mein Wissen teilen darf und mich nicht mit anderen vergleichen sollte.
Der Abstieg zum ersten Rastplatz begann, wo ich eine kurze Pause machte. Denn es gab ein Klo, einen Getränkeautomaten und Bänke zum Verweilen.
Nun lag ein kurzer Marsch entlang der Strasse auf dem Programm. Dann ging es wieder hinauf. Immerhin war es dann flach. Vor mir waren zwei Pilgerer, welche bei einer Markierung den Weg in den Wald suchten. Wir kannten uns, weil sie im gleichen Wanderhotel übernachteten wie ich. Und so fragten sie mich, wo der Weg sei. Ich antwortete, dass er noch kommen werde und dass es einen Wegweiser gab. Beim Wegweiser angekommen, ging es zuerst wieder nach unten, um dann nochmals anzusteigen. Es gab noch immer viele Steinstufen und manchmal war auf dem Weg auch ein Flüsschen. Zwischen diesen zwei Pässen fühlte ich mich zuhause. Es war wie in der Taubenlochschlucht oder im Schweizer Nationalpark.
Auf dem dritten Pass machte ich meine Mittagsrast. Der höchste Punkt der Wanderung. 883 Höhenmeter. Ich hatte Hunger und wollte nicht noch weiter bis zum Aussichtspunkt gehen.
Ich ging weiter in meinem Tempo. Von diesem letzten Pass ging es grösstenteils nur noch nach unten und diese unförmigen Steintreppen begleiteten mich noch immer. Plötzlich meldete sich meine Verdauung. Etwas löste sich. Im Wald austreten kam für mich nicht in Frage, weil bald wieder ein öffentliches Klo kam. Zu meinem Glück war es ein modernes Klo. So hatte ich nochmals eine Sitzpause und konnte nochmals die Karte lesen. Bald war ich angekommen. Ich fragte mich, wo in Nachi ich runterkommen würde.
Vorher sah ich noch ein Reh (shika) und kurze Zeit später eine Schlange.
Als ich kurz an einer Weggabelung hielt, hatte mich das Paar, welches unsicher war bezüglich des Weges, wieder eingeholt. Einer dankte mir, dass ich so selbstsicher und vertrauenswürdig geantwortet hatte, weil er schon zurückgehen wollte.
Das erfüllte mein Herz und ich war dankbar für das Kompliment.
In Nachi angekommen, entschied ich mich erst einmal ein Bild von mir und dem Wasserfall zu machen. Danach ging ich zum Seganto-ji und zum Kumano Nachi Taisha.
Danach gönnte ich mir ein Ume-Softeis, bevor es weiter ging zu meinem Freund, dem dickbäuchigen Buddha und zum 133 m hohen Nachi-Wasserfall.
Nachi liegt auf knapp 400 m Höhe und ich bin um 14 Uhr angekommen. Der Weg wurde mit 7 bis 9 Stunden angegeben. Ich war somit rund eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit dort.
Als ich mein Softeis gegessen hatte, begegnete ich zwei Niederländern, welche ich am ersten Tag getroffen hatte. Ich empfahl ihnen ein Softeis. Und als ich vom Wasserfall zurücklief, begegnete ich einem Paar, welches ich am ersten Tag beim Mittagessen getroffen hatte. Sie hatten den zweiten Tag der Wanderung ausgelassen und besuchten dafür Shingu.
Da ich früher ankam und meine Oberschenkel und Füsse brannten, entschloss ich mich für den Besuch im Onsen vom Hotel Urashima in Katsuura. Das tat gut. Ich entspannte mich und genoss richtig das heisse Schwefelwasser. Neben dem Bahnhof in Katsuura gibt es ein köstliches Restaurant. Da ich etwas vor der Öffnungszeit da war, wartete ich. Sie hatten für mich einen Platz an der Theke und ich bestellte mir ein Unagi-Don-Menu (Reis mit gegrilltem Aal). Der Restaurantbesitzer erkannte mich von Instagram und gab mir ein Amuse-Bouche mit Gemüse in getrockneter Tofuhaut und beim Bezahlen erhielt ich noch ein Geschenk für meinen Besuch. Vielleicht auch deshalb, weil ich nicht stundenlang sitzen blieb, weil sie kurze Zeit später Reservierungen hatten.
Ich bin dankbar für diese zwei wundervollen Tage. Ich habe vieles über mich gelernt und auch einiges losgelassen.
Hier findest du die Bilder der Wanderung.